Anija Seedler
Es war ein kalter Tag. Ich war etwas zu früh zu unserem Termin in der Baumwollspinnerei in Leipzig angekommen, musste aber das Atelier von Anija Seedler in dem komplexen Gebäude erst einmal ausfindig machen.
Die Baumwollspinnerei ist ein großer Gebäudekomplex mit auf den ersten Blick nicht ganz einfach zu durchdringenden Strukturen. Am Eingang des Gebäudes begrüßte mich ein großer grüner Briefkasten mit vielen Fächern. Ich ging die Treppe hinauf und fand in einem der obersten Stockwerke einen großen Korridor mit einer Tischtennisplatte und einigen Stühlen, wo ich beschloss, Anija anzurufen, da ich mich offensichtlich verirrt hatte. Bald darauf trat sie aus einer Tür, um mich abzuholen. Ihr Atelier ist eines der größten, die ich je besucht habe. Es hat große Fenstern, in den Regalen Büchern und Zeichnungen und auf dem Boden unfertige Bilder von Anija, an denen sie parallel arbeitet. Sie lädt mich zu einer Tasse Tee ein. Wir beginnen über mein Projekt und ihre Arbeit zu sprechen. Sie erzählte mir, wie sie in Italien studiert hat, von ihrem ersten Atelier dort, warum sie nach Deutschland zurückgekommen ist, einige Anekdoten über ihr derzeitiges Atelier in der Baumspinnerei in Leipzig und ihre Sicht auf das Leben in Deutschland als Künstlerin.
Du hast in Frankreich und Italien studiert und gearbeitet - was hat dich zurück nach Deutschland gebracht?
Ich habe in Italien studiert, gelebt und gearbeitet und darüber hinaus in verschiedenen Ländern als Bühnen-und Kostümbildnerin gewirkt. Die Entscheidung ergab sich damals ganz pragmatisch mit der Situation ein Kind im Bauch zu haben und dem Wissen, dass Familie und Kunst in Italien nur wenig gut zusammen funktionieren.
Es gibt ja dieses romantische Klischee der italienischen Großfamilie, das allerdings den klaren Blick auf die schwierige Situation für Familien in Italien verfälscht. Italien hat nicht ohne Grund mit 1,24 eine der niedrigsten Geburtenraten. Nicht, dass es als Mutter und Künstlerin in Deutschland paradiesisch einfach wäre, nein, allerdings ist es immerhin möglich.
Ich muss ergänzen, bis heute bin ich in Abständen immer wieder für künstlerische Projekte in Italien.
Gibt es in deiner Familie einen künstlerischen Hintergrund?
Nein, überhaupt nicht.
Allerdings hatte ich einen kulturell sehr aufgeschlossenen Großvater. Er hatte einen technischen Beruf, war aber ein freier Geist mit viel Sinn für Kunst und Kultur. Und ich hatte einige strickende, nähende weibliche Verwandte.
Man hat mir gesagt, man konnte mich immer irgendwo abstellen, bei sämtlichen Tanten und Verwandten, ganz unkompliziert. Es brauchte nur ein paar Stifte und Papier und Alles war gut.
Kannst du dich an einen Zeitpunkt erinnern, an dem du dich zum ersten Mal für Kunst interessiert hast?
Nein, an den einen Zeitpunkt nicht. Mein Opa hatte ein paar Bücher, die mich tief faszinierten und die ich immer und immer wieder anschaute. Das dicke Buschbuch, z.B., das war für mich als Vierjährige ein ganzes Universum, ein 8cm dickes Buch voll mit Zeichnungen. Ich hab das wieder und wieder, für Wochen, Monate, ach Jahre angeschaut. Dann gab es noch dieses Minibuch mit den Märchen der Gebrüder Grimm, das ich überall mit hin nahm. Es war völlig zerfleddert. Ohne dieses Buch bin ich nirgendwo hingegangen. Und es gab diese drei Bilder an der Wand in unserem Wohnzimmer. Kunstpostkarten, zufällig eingerahmt. Niemand in der Familie konnte mir sagen, wer die Leute auf den Bildern sind. In die bin ich komplett eintauchte, immer und immer wieder. Ich hab mir damals skurrile Geschichten über die Personen ausgedacht. Sie wurden Teil meiner imaginären Familie. Später erfuhr ich, dass es sich bei den Bildern um Gemälde von Rembrandt, Liotard und Piero della Francesca handelte. Zu meiner Familie gehörten das Schokoladenmädchen, Saskia und Federico da Montefeltro.
Wann hattest du dein erstes Atelier?
Das war in Italien. Es gab in unserer WG nicht wirklich viel Platz, aber einen begehbaren Schrank, wo ich Papier und Farben ausgebreitet und über Wochen immer nachts, im Grunde heimlich, gearbeitet habe. Der Schrank war sehr niedrig. Ich musste beim Malen immer den Kopf einziehen und arbeite quasi liegend. Meine Mitbewohnerinnen wunderten sich, wohin ich nachts immer verschwand. Eines Abends öffnete sich meine geheime Schranktür, während ich am Boden liegend mit Kohle auf Papier große Formate füllte. Diesen Moment, als sich leise die Schranktür öffneten und wir einander völlig erschrocken anstarrten, den vergesse ich nie.
Wie kam es dazu, dass du dein jetziges Atelier in der Leipziger Baumwollspinnerei hast?
Ich war für ein Druckgrafiksymposium in der Spinnerei, traf auf eine Freundin, die mich zum Kaffee in ihr frisch bezogenes Atelier einlud. Als ich diesen unglaublich schönen riesigen Raum betrat, klopfte mein Herz bis zum Hals und ich fühlte, ich hab irgendwas mit diesem Ort zu tun. Unvermittelt lud sie mich ein, öfter zu kommen und gern auch gelegentlich in diesem Atelier zu arbeiten. Das tat ich dann auch. Ich kam öfter und irgendwann zog meine Freundin aus der Stadt und das Atelier wurde frei. Ich dachte es mir allein nicht leisten zu können, machte aber eine Art Wette mit mir aus: wenn Du dich bei diesem Kunstpreis bewirbst und ihn bekommst, nimmst du das Atelier. Es kam so und ich übernahm den Raum.
Leben Künstler in der Leipziger Baumwollspinnerei? Ich dachte, das wären nur Ateliers.
Es gibt hier vorwiegend Ateliers, Werkstätten und Galerien. Doch auch einige Wohnungen. Die, die hier wohnen, waren meist schon ganz früh da, damals Ende der 90er, als die Spinnerei noch gar nicht als Kunstzentrum definiert wurde. Es gab wohl eine spannende Phase in der noch nebenher die Produktion weiter lief, sich aber schon erste Künstler und Galerien hier ansiedelten.
Welche Vor- und Nachteile hat es, wenn sich dein Atelier im selben Gebäude ein Stockwerk über deine Wohnung befindet?
Zum Einen ist das sehr praktisch. Man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit mal schnell ins Atelier springen und irgendwas weiterspinnen. Zum Anderen ist es ungünstig, so gar nicht raus zu kommen aus diesem gigantischen Gebäude. Aber ich kann ja jederzeit aus meinem kurzen Arbeitsweg einen langen machen, indem ich einem Umweg gehe, runter zum Kanal zum Beispiel.
Wie viel Zeit verbringst du in deinem Atelier?
Oh, das ist extrem verschieden und ich kann es gar nicht so pauschal beantworten. Viele Male am Tag gehe ich raus und wieder rein ins Atelier. Grob geschätzt sind es vielleicht durchschnittlich 4-6 Stunden am Tag, die ich dort arbeite. Wenn ich die Möglichkeit hab länger zu bleiben, weil die Kinder Ferien machen o.ä., dann nutze ich alle Zeit, die ich hab. Dann können das auch 12-18 Stunden werden. Oder ich schlafe gleich dort. Das sind sehr seltene und besondere Episoden, die ich extrem liebe. Da es mir dann endlich wirklich möglich ist, tief in die Arbeit einzutauchen.
Hast du eine Anekdote aus deinem Atelier?
Anekdoten gibt es viele. Hier sind schon so viele Menschen ein und aus gegangen. Filme wurden gedreht, Feste gefeiert, Chorproben fanden statt. Viele Freunde und Freunde von Freunden übernachteten hier. Dennoch ist dieser Ort auch sehr privat und irgendwie heilig. Es gibt dieses unglaubliche Licht, es gibt eine kaum begreifbare Stille. Im Winter sind manchmal die riesigen Fenster vereist. Dann malt man in einem Kokon aus Licht. Und im Frühling erlebt man den herrlichsten Zwitscherlärm, da in den Bäumen vor den Fenstern viele Vögel nisten. Ich male seit ich in diesem Atelier bin häufig Vögel. Es war mir lang gar nicht bewusst, dass es mit der Umgebung zusammen hängen könnte. Eine schöne Anekdote fällt mir dazu noch ein. Ich hatte gerade dieses riesige Bild mit dem Sittich fertig. Als ich eines Tages ins Atelier kam, saß ein kleiner Spatz davor, ganz verängstigt, es machte viel Mühe ihm den Weg in die Freiheit zu zeigen. Am nächsten Tag kam ich ins Atelier und zwei Spatzen saßen auf meinem großen Sittich-Bild. Sie wirkten vergnügt und als sie mich bemerkten, nahmen sie den direkten Weg zum Fenster hinaus. So als hätten sie beschlossen, doch lieber abzuhauen nachdem sie die Nacht hier verbracht hatten. Später stellte ich fest, sie hatten versucht über meinem Bild im Deckenbalken ein Nest zu bauen.
Woher weißt du, wann eines deiner Kunstwerke fertig ist?
Der Moment ist immer klar, doch wann er sein wird, das weiß ich nie. Es ist ein Warten, Bangen, Hoffen, Streben, manchmal wild kämpfen und dann ist er einfach da, dieser Moment. Ich weiß es dann ganz genau. Alles stimmt und schaut mich an. Alles! Es gibt keine weiteren Fragen, es ist vollendet. Wenn ich das technisch beschreiben müsste, dann ist im Bild eine bestimmte Mischung aus Harmonie und Disharmonie, Chaos und Bewegung, ein hohes Maß an Spannung und Ruhe erreicht. Es spricht zu mir, es schaut mich an, es überrascht mich. Schwierig wird es, wenn ich diesen Moment, auf Grund von Unruhe oder Übermüdung, nicht ernst nehme und versehentlich einen Schritt weiter gehe. Dann könnte es sein, es war vollendet und ein weiterer Strich hat es zerstört. Wenn die Materialität es her gibt, dann geht die Reise weiter und irgendwann später, wird es dann doch noch fertig. Manchmal ist das Bild dann aber auch verloren..
Was ist für dich wichtiger, Prozess oder Endprodukt?
Das kann ich absolut nicht sagen. Beides ist wichtig. Der Prozess ist Leben. Das Endprodukt ist Geburt und Tod zugleich.
Interessieren sich die Menschen, die sich deine Arbeiten ansehen oder ein Kunstwerk von dir gekauft haben, für den Prozess?
Ja, immer wieder. Aber auch die, die keins kaufen, interessieren sich. Vor allem Künstlerkolleg:innen interessieren sich sehr für den Prozess.
Die, die kaufen, haben meist ihre ganz persönliche Beziehung zum Bild. Und manchmal wollen sie lieber gar nicht so viel vom Hintergrund wissen, manchmal interessiert sie nicht mal der Bildtitel und manchmal ist der Titel der Grund, dass sie meinen, das Bild müsse ihnen gehören. Es ist wie Alles auf der Welt vielfältig.
10 % der Künstler in Deutschland können von ihrer Arbeit leben.
Ja, viel ist das nicht! Und das hat seine bedauerlichen Gründe. Einerseits könnte man jetzt einen großen Vortrag eröffnen. Wir wissen alle, Kunst und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft und doch bleiben die Produzent:innen so unterbezahlt, leben zum Teil in prekären Situationen. Und wenn man sich dann noch fragt, wie viele von diesen 10% denn Frauen sind, wird die Sache noch bedauerlicher. Und doch möchte ich betonen, dass ich trotz des Wissens um diese komplexe Lage in der wir Künstler:innen uns befinden und mit der ich durchaus nicht froh bin, ich doch auch jeden Tag sehr schätze, mich in einer solch privilegierten Situation zu befinden und Kunst zu machen.
Hast du eine Vorstellung von dem Vergleich mit der Situation in Italien, wo du eine Zeit lang gelebt hast?
In Italien ist es noch um einiges schwieriger, da beispielsweise weniger staatliche Förderung existiert. Und für Frauen ist es, gerade bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, noch komplexer, als in Deutschland.
Bilder: Irving Villegas
Irving Villegas, geboren 1982 in Mexiko geboren, hat Fotojornalismus und Dokumentarfotographie an der Hochschule Hannover University of Applied Sciences and Arts studiert. Derzeit pendelt er zwischen Hannover und Berlin.Arbeiten von ihm wurden in verschiedenen Magazinen und Zeitungen wie etwa The New York Times, The Guardian, Der Spiegel, 6 mois, Huffington post, Fluter, Hannoversche Allgemeine Zeitung veröffentlicht.